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Eine Lücke wird immer bleiben...

Mutter, die ihren 21-jährigen Sohn durch Suizid verloren hat.

An dem Morgen, als ich erfuhr, dass mein Sohn nicht an seinem Arbeitsplatz erschienen sei, machte ich mir zuerst noch nicht so viele Gedanken. Das war nichts Neues. Schon seit ein paar Jahren hatte er immer wieder depressive Phasen, in denen er sich zu Hause verkroch und für niemanden mehr erreichbar war. Therapien und zeitweise auch Behandlungen mit Antidepressiva brachten zwar Besserung. Rückfälle gab es jedoch immer wieder. So versuchte ich zuerst einmal einfach, ihn bei ihm zu Hause zu erreichen. Alarmiert war ich erst, als Freunde mir erzählten, er habe eine SMS verschickt, die auf einen Suizid deute. Das erinnerte an seinen Suizidversuch ein paar Jahre zuvor und versetzte uns alle, Familie und Freunde, in allergrösste Sorge.

Eine verzweifelte Suche begann. Zusammen mit der Polizei gingen wir alle Möglichkeiten durch, schauten überall nach, fragten alle, die uns in den Sinn kamen, nach ihm. Eine Vermisstenanzeige brachte keine Ergebnisse. Er blieb spurlos verschwunden. Je mehr Tage vergingen, desto klarer wurde: Jetzt ist etwas ganz Schlimmes geschehen!

Was mir als Mutter alles durch den Kopf ging in jenen Tagen, kann ich nicht in Worte fassen. Manchmal war ich gelähmt vor Schmerz und überzeugt davon, dass er nicht mehr lebte. Dann wieder die verzweifelte Hoffnung, dass er doch wieder auftauchen würde. Am schlimmsten war die Ohnmacht. Einfach nur dazusitzen und zu warten, bis man ihn finden würde, war für uns alle fast unerträglich. Meine Familie – vor allem meine Tochter – um mich zu haben, war für mich überlebenswichtig. Ich hätte es sonst nicht ausgehalten. Auch meine Freunde waren für mich da und von der Polizei wurde ich gut betreut. Die Beamten nahmen sich viel Zeit für mich und waren sehr einfühlsam. Doch konnten sie nichts mehr tun, alle Möglichkeiten ihn zu finden waren ausgeschöpft, auch für sie war das schwer auszuhalten.


Wie weiterleben?
Vier Wochen nach seinem Verschwinden fand man ihn. Obwohl ich auf diese schlimme Nachricht gefasst war, traf mich der Schmerz mit unvorstellbarer Wucht. Es war, als würde ich entzwei gerissen. Ich dachte, der Boden unter mir würde sich auftun und mich verschlucken. Immer wieder stellte ich mir die Frage, wie ich das aushalten soll. Dieser Schmerz würde ja nie mehr aufhören. Wie kann man so weiterleben?

In jener Zeit habe ich einfach funktioniert. Zusammen mit seinen Freunden haben mein Ex-Mann, meine Tochter und ich die Beerdigung organisiert. So viele Menschen waren damals für uns da, haben uns geholfen, sich Zeit genommen für uns oder uns einfach nur wortlos in die Arme genommen. Die Erfahrung, in einem solch schlimmen Moment nicht alleine zu sein, machte mich zuversichtlich: Irgendwie werde ich das schaffen.


Die Suche nach Antworten

Nach der ersten Lähmung, dem nicht Wahrhabenwollen, kamen die Fragen. Wie konnte das geschehen? Da mein Sohn bereits nicht mehr bei mir gelebt hatte, wusste ich von seinem Alltag nicht so viel. Er war schon 21, da ist man als Mutter nicht mehr über alles informiert. Zum Beispiel darüber, dass er Liebeskummer hatte oder dass er an seiner Arbeit unglücklich war. Vieles deutete er an, aber gesprochen darüber hatte er mit mir nicht wirklich. Er hatte sich mir gegenüber schon länger verschlossen, wollte seinen eigenen Weg gehen. Vielleicht gerade weil er eine Zeitlang Schwierigkeiten hatte, wollte er beweisen, dass er sein Leben nun alleine schafft. Für mich war das immer wieder eine Gratwanderung. Einerseits versuchte ich ihm zu zeigen, dass ich als seine Mutter an ihm interessiert bin und es mir nicht gleichgültig ist, wie es ihm geht. Andererseits wollte ich seinen Wunsch nach Eigenständigkeit respektieren, sonst hätte ich ihm ja signalisiert, dass ich ihm das nicht zutraue. Ein Zwiespalt, den wohl viele Eltern kennen und der ganz normal ist. Doch wenn man sein Kind auf eine solche Art verliert, stürzt einen genau diese Frage ins Bodenlose: Hätte ich mich nicht doch mehr einmischen, mich mehr um ihn kümmern sollen?

Die ersten Wochen und Monate meiner Trauer waren vor allem ein Suchen nach Antworten. Es war wie ein grosses Bild, das ich Teilchen um Teilchen zusammensetzen musste. Gespräche mit seinen Ärzten, mit der Polizei, dem Rechtsmediziner, den Arbeitskollegen, Freunden; jede Information fügte ich sorgfältig in dieses Bild. Ich verschlang Unmengen von Büchern über Suizid, über Trauer, übers Sterben und übers Weiterleben. Und die Gedanken kreisten unaufhörlich. Wenn ich dann spät in der Nacht endlich einschlafen konnte, kamen die Träume. Nacht für Nacht trug ich meinen Sohn, wieder als kleines Baby, auf meinem Arm. Das war wohl mein Mutterinstinkt, der immer noch beschützen wollte, obwohl mein Sohn nicht mehr zu beschützen war.


Was mir half im Trauerprozess
Die Frage nach dem Warum quälte mich lange Zeit. Was ging in seinem Kopf vor in den letzten Stunden vor seinem Tod? Immer wieder zog es mich an den Ort, wo er starb, oder ich sass stundenlang in seiner Wohnung, als ob seine Gedanken noch dort wären und ich sie irgendwie einfangen könnte. Irgendwann musste ich einsehen, dass ich keine endgültige Antwort bekommen kann und ich mich nicht mehr länger damit quälen sollte.

In Gesprächen mit Fachleuten lernte ich, dass es eher selten ein freier Entscheid ist, sich das Leben zu nehmen, sondern oft die Folge einer psychischen Erkrankung. Das hat mir geholfen zu verstehen. Als ich die Mails gelesen hatte, die mein Sohn noch an Freunde verschickt hatte, konnte ich erkennen, dass er in einer Krise steckte, aber immer noch dachte, er würde da schon selber wieder rauskommen. Er hatte gekämpft, doch es wurde immer enger und irgendwann ist alles über ihm zusammengebrochen. Dann war es zu spät, in diesem Moment war er nicht mehr in der Lage, Hilfe zu holen.
Als ich das begriffen hatte, war mein Schmerz zwar nicht kleiner, doch konnte ich diese quälenden Gedanken nach dem Warum langsam loslassen und anfangen, mich um mich selber zu kümmern. Ich musste wieder Kraft schöpfen, wieder ins Leben zurück finden.


Erfahrungen teilen
Hatte ich am Anfang noch ganz stark das Bedürfnis nach Menschen um mich herum, merkte ich, dass ich mich nach und nach immer mehr zurückzog. Am liebsten hätte ich nur noch meine Tochter um mich gehabt. Ihre Nähe war für mich der grösste Trost. Doch musste ich lernen, dass ich mich nicht den Menschen verschliessen und mich nicht zu fest an meine Tochter hängen durfte. Sie hatte ihren Bruder verloren, war genauso traurig und verletzt.

Und so beschloss ich, dem Bedürfnis nach Rückzug nicht zu oft nachzugeben, sondern die Verbindung zu meinen Mitmenschen zu behalten. Ich nahm mir vor, jede Einladung anzunehmen. Ich freute mich ja jeweils darüber. Nur brauchte es manchmal ein bisschen Überwindung, weil ich immer so erschöpft war. Schon bald suchte ich den Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe. Beim Verein Regenbogen Schweiz, einer Selbsthilfeorganisation für Eltern, die um ein Kind trauern, fand ich Menschen, die das Gleiche erlebt haben wie ich (www.verein-regenbogen.ch).

Wenn ich mit Leuten, die so etwas nicht selber erlebt haben, über den Tod meines Sohnes sprach, hatte ich immer wieder das Gefühl, dass ich sie damit überfordere. Aber in der Selbsthilfegruppe konnte ich reden. Wenn ich von meinen Schuldgefühlen, meiner Scham, aber auch von meiner Wut erzählte, musste ich das nicht erklären – ich wurde verstanden. Die Geschichten der anderen Teilnehmenden zu hören, half mir, mein hartes Urteil über mich selber zu relativieren. Nach und nach lernte ich, meine Schuldgefühle abzulegen. Auch heute gehe ich noch ab und zu in diese Gruppe. Nun kann ich den frisch Betroffenen dort erzählen, wie ich mit der Zeit wieder gelernt habe, zuversichtlich zu sein und auch wieder Freude zu empfinden im Leben. Damit kann ich ihnen Mut machen, dass man aus diesem dunklen Loch der Trauer auch wieder herauskommen kann.


Darüber reden hilft

Ein Kind zu verlieren ist nicht das Gleiche, wie von seinen Eltern oder von seinem Partner Abschied nehmen zu müssen. Dass das eigene Kind vor einem stirbt, war nicht vorgesehen. Man kann sich auch nicht ein neues Kind suchen, wie einen neuen Partner. Es wird immer eine Lücke bleiben, die einem in gewissen Momenten, auch nach vielen Jahren, noch sehr schmerzhaft bewusst wird. Es ist ein langer Weg der Trauer, den man gehen muss. Heute, zehn Jahre nach dem Tod meines Sohnes kann ich sagen, dass ich gelernt habe mit diesem Verlust zu leben. Ich habe mich sehr verändert. Doch empfinde ich diese Veränderung nicht als negativ. Ich habe gelernt, mir besser Sorge zu tragen und mit mir selber auch mal nachsichtig zu sein. Zudem ist mir klar geworden, dass ich in all dieser schweren Zeit doch nie den Boden unter meinen Füssen verloren hatte - und diese Erfahrung, dass dieser Boden, auch bei einer solchen Erschütterung, gehalten hat, ist eine ganz besondere.

Wichtig für mich ist, dass ich immer noch von meinen Sohn erzählen darf. Er war ja 21 Jahre lang Teil meines Lebens. Ich merke oft, dass mein Gegenüber verunsichert ist und denkt, es wäre zu schmerzlich für mich, über ihn zu sprechen. Doch ich erzähle gerne von ihm. Ihn einfach nicht mehr zu erwähnen, weil er vor 10 Jahren gestorben ist, wäre für mich wie wenn er ein zweites Mal sterben würde.

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