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„.... und wie geht es jetzt weiter?“

Student (24), der seine Mutter durch Suizid verloren hat

Als ich meine Mutter durch Suizid verlor, war ich 21 Jahre alt. Das Zusammenleben mit meiner Mutter gestaltete sich nicht immer einfach. Sie war einerseits ein sehr herzlicher und liebevoller Mensch, aber in ihren dunklen Momenten konnte sie auch sehr aufbrausend, ja geradezu verletzend sein. Dass sie ein Alkoholproblem hatte, zeichnete sich nach der Scheidung immer deutlicher ab. Doch sehr wahrscheinlich, wie wir erst danach realisierten, war dies nur die Spitze des Eisbergs. Kurz bevor es geschah, war ich bei ihr ausgezogen, um bei meinem Vater zu leben. In der Hoffnung, dass dieser Neuanfang uns beiden gut tun und uns helfen würde, unser Leben ein wenig zu ordnen.

An jenem Tag, den ich wohl nie vergessen werde, sass ich in der Schule, als mein Vater mich anrief und sagte, ich müsse sofort nach Hause kommen. Es sei etwas passiert. Doch was, könne er mir nicht am Telefon mitteilen. Da hatte ich schon so eine Ahnung, dass etwas mit meiner Mutter sein könnte, weil mein Vater sonst nie um den heissen Brei herumredet. Als ich dann zu Hause ankam, weinte mein Vater. Das war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah. In diesem Moment begriff ich, dass ich mit meinen Befürchtungen richtig lag. Meine einzige Frage war, ob sie tot oder im Krankenhaus sei. Seine Antwort war: „Tot!“

Das war ein Schock für uns alle, auch für meine kleine Schwester. Das hatten wir alle nicht kommen sehen. Die erste Zeit nach der Nachricht war sehr surreal. Ich konnte überhaupt nicht fassen, was geschehen war. Ich begriff es nur auf einer rationalen aber nicht emotionalen Ebene. Ich verstand es erst richtig, als ich sie zwei Tage später im Sarg liegen sah. In dieser schweren Zeit waren meine Freunde für mich da, haben mir beigestanden und stützten mich.

Gefühle ordnen und herausfinden, was ich will

In der Zeit nach der Beerdigung stürmten viele Sinnfragen auf mich ein: „Was mache ich jetzt? Warum besuche ich weiterhin die Schule? Was mache ich mit meinem Leben?“ Ich konnte mich in der Schule und auch sonst schlecht konzentrieren. Schliesslich entschied ich mich, eine Auszeit zu nehmen. Ich reiste etwa sechs Monate in Europa herum und besuchte dabei meine Verwandten. Manchmal war ich alleine unterwegs und manchmal begleiteten mich Freunde. Zwischendurch kehrte ich für einige Zeit nach Hause zurück, um meinen Vater und meine kleine Schwester zu sehen.

Was mich bei meinen Reisen am meisten beschäftigte, war der Gedanke, dass mir die Chance verwehrt blieb, mich von dem Menschen, den ich so sehr geliebt habe, zu verabschieden. Ich hätte so gerne noch ein letztes Mal mit ihr geredet und sie auch nach dem Grund gefragt, warum sie uns so frühzeitig verlassen hatte. Doch egal wie oft man sich diese Fragen in Gedanken stellt oder ein leises „Warum“ vor sich hinmurmelt, man bekommt keine Antwort. Auch das Thema Schuld war vor allem am Anfang meiner Reise ein stark präsentes Thema und mit ihr auch ein gelegentlicher Anflug von Wut. Eine Wut auf sie, auf mich, auf die Gesellschaft, ja selbst auf Gott, auch wenn ich nicht gläubig bin.

Rückblickend war das halbe Jahr Auszeit sehr wichtig für mich. Es half mir, meine Gefühle zu ordnen, über das Geschehene zu reden, aber auch mal alleine zu sein und herauszufinden, was ich mit meinem Leben machen will, bzw. was ich noch alles erleben möchte. Am meisten geholfen haben mir meine engen Verwandten und Freunde, die einfach da waren, mich abgelenkt und mir zugehört haben. Anfangs nahm ich auch psychologische Betreuung in Anspruch, realisierte aber schnell, dass dies nicht die Hilfe war, welche mich in meinem Trauerprozess voranbringen würde.

Über Suizid sprechen

Mit der Zeit habe ich gelernt, über das Thema Suizid und meine persönliche Betroffenheit mit diesem Thema offen zu sprechen. Das überfordert manche, was ich ja auch verstehen kann. Ich bin jeweils froh, wenn mir das zurückgemeldet wird. Ich denke, dass es wichtig ist, dass man das Gespräch über das Geschehene sucht und mit seinen Gedanken und der Trauer nicht alleine bleibt. Ich setzte mich auch intensiv mit Depressionen und anderen psychologischen Themen auseinander, um wenigstens teilweise zu verstehen, was ein Mensch zu solch einer Entscheidung bewegt. Aber auch, weil ich zu Beginn Angst hatte, dass ich die Veranlagung meiner Mutter vielleicht geerbt habe und selbst Gefahr laufe, mir eines Tages das Leben zu nehmen. Doch in der Zwischenzeit habe ich diese Ängste verworfen. Weniger aufgrund des Studiums der Fachliteratur, sondern mehr weil ich mich durch diesen Prozess besser kennengelernt habe.

Während der Vorbereitung zur Beisetzung gab mir der zuständige Pfarrer einen Flyer vom Nebelmeer mit. Als ich die Webseite des Nebelmeers nach meiner Reise durchstöberte (www.nebelmeer.net) fand ich heraus, dass es sich dabei um eine geleitete Selbsthilfegruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen handelte, die einen Elternteil durch Suizid verloren hatten. Anfangs war ich skeptisch, da ich bis dahin noch nie eine Selbsthilfegruppe besucht hatte und diese nur aus zweitklassigen Soaps kannte. Aber schon beim ersten Treffen verflogen meine Bedenken. Ich fand es befreiend, dass man sich in dieser Gruppe nicht verstellen musste.

Man kann seine Gefühle und Trauer in diesem jeweils zweistündigen Beisammensein zum Ausdruck bringen. Und zwar so, wie sie einem auf dem Herzen liegen. Denn man weiss, dass die anderen einen verstehen, weil sie Ähnliches durchgemacht haben oder immer noch durchmachen. Man kann sich austauschen, zusammen über das Leben philosophieren und auch (und das ist mir besonders wichtig) zusammen lachen. Das Wertvollste, was ich jedoch in der Gruppe gelernt habe, war die Erkenntnis, dass ich nicht alleine mit meinen Gefühlen bin.

Am Ende meiner Reise kam ich zum Entschluss, dass ich nicht länger wütend auf die Vergangenheit sein will. Auf niemanden, vor allem nicht auf meine Mutter. Das würde ihr nicht gerecht werden, denn sie hat mir sehr viel auf meinen Lebensweg mitgegeben. Bis zum heutigen Tage kann ich ihre Entscheidung, so früh aus dem Leben zu scheiden, nicht akzeptieren. Aber sie aufgrund dieser Tat zu verurteilen, wäre falsch. Denn wenn ich in mich hineinhorche und mich zurückerinnere an meine Jugend und Kindheit, so überwiegen die liebevollen Erinnerungen und Gefühle an sie bei Weitem die Erinnerungen und Gefühle der Zeit, in welcher es ihr nicht gut ging und sie beschloss, sich das Leben zu nehmen.

Was ich anderen mitgeben möchte:

Ich möchte Menschen, die auch jemanden durch Suizid verloren haben, Mut machen, sich Zeit für ihre Trauer zu nehmen. Dabei muss man ganz stark darauf hören, was man selber gerade braucht und lernen, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen. Auch wenn jeder einen ganz individuellen Trauerprozess durchläuft, so denke ich, ist es immer hilfreich, sich mit jemanden auszutauschen, der einem nahe steht.

Den Menschen, die sich um einen Hinterbliebenen kümmern, möchte ich sagen, dass ehrliches und aufrichtiges Interesse extrem hilft. Und dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn man sagt, dass man überfordert ist. Schon die reine Anwesenheit eines Gegenübers hilft. Kommentare zu machen und Ratschläge zu erteilen sind oft gar nicht nötig.

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